
Orpheus, Zürich 1974
Eine fiktive Biografie des Sohnes des Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell.
Fähnrich Tell beschleunigte unwillkürlich seine Schritte, versetzte sich in Trab, weil Böllerschüsse von den Flühen gellten. War also nicht mehr weit, dachte er, als er die Ellenbogen lässig auf die Barriere stützte, die da einen Bahnübergang beschrankte, derweil er warten musste. Derart in Gedanken, erhält er plötzlich einen Rückenhieb – Tell dreht sich um, will mit der Fahne spiessen, da schüttelt ihn das grosse Lachen: Sein Vetter Melchi Melchtal wars, der ihn begrüsste. Das war ein Wiedersehen, weiss Gott im Himmel! Tell berichtete, während die Eisenbahn – ein Güterzug – vorüber stampfte, von Brunnen und dem Aufstand dort, welchen er mit eigenen Augen gesehen –; Melchi, nicht schlecht, sagte grinsend, er habe leider nichts verstehen können, meinte, es sei schon gut und erzählte seine Abenteuer. Gamsjäger seien wie immer hinter seiner Ferse (Tell schaute hin) und setzten ihm hart zu; er sei des Lebens nicht mehr sicher, und alles bloss wegen der verjährten Sache mit den Ochsen. Die ollen Österreicher könnten einfach nicht vergessen. Das kannte Walter, und selbander überquerten sie die Schienen. Gemeinsam steckelten sie vorwärts, frohen Muts und heiter. Melchi wollte solche Kerls in Waffen erwischt haben und oft kurzerhand gemeuchelt. Einen habe er in seiner Hundertfünfzig-Pfund-Rüstung an eine Eiche aufgeknüpft, der lebe noch, bestimmt, in seinem Eisenkäfig; ’nen andern, der frech kam, hätte er von einem Burgfried gestossen, er tät ihm jetzt noch leid, und nachher ein Ave für den Wicht, den nichtsnutzigen, gebetet. Ein weiterer hätte beim Würfelspiel dauernd gegen ihn gewonnen und ihm seine Batzen abgeluchst. Der Laueri hatte zum letzten Mal betrogen, gab Melchi lauthals an, denn seinen Würfelbecher, den brächt er nicht mehr von der Nase! Sie lachten, beide Freunde, Walti und Melchi, gar sehr, sodass die Vorhut der österreichischen Vasallen, Zürcher warens, die gerade das Tal aus ritten, zum Rückzug bliesen.
Jetzt gab es hinten ein Gedränge, was nicht vorauszusehen war, im Kessel zu Morgarten. Tell sagte: «Vetter, wart.» Er rannte rasch den Hang hinauf und überblickte nun das Heergefolge. Die wackeren Uri-Schwyz-und-Unterwaldner frohlockten stark, als sie den Tell ankeuchen sahen und bald darauf auch noch den Melchtal mit. Das war für sie so viel wie eine Schwadron Kavallerie. Der Tell: «Hei, Mannen, jetzt gilts ernst. Da bin ich aber grad zur rechten Zeit gekommen. Leckt mich am Arsch, ihr österreichischen Strauchritter!» brüllte er hinab, «wenn wir euch nicht zur Sau machen können!» Die Krieger johlten: «Tell ist da, und jetzt wird Korn gedroschen!» Melchi klärte die Lage auf, indem er über einen Felsen kroch und ins Gemenge starrte: «Mensch, Tell, das ist ein Schieben! Die Kerle können vorwärts nicht und nicht zurück! Sie haben sich verfangen in den eigenen Haken! Das musst du sehen, komm her!» Tell trat vor und schrie in die verwirrte Meute: «Ihr Rittersleute, hört den Tell! Hier oben steh ich, kommt heruff, wenns euch zu scharmützeln lüstet, lasst mich euch packen in euren röstigen Eisendingern! Die Gäule tragen euch ja kaum, ihr Schinder, Ruechen ihr!» Der Herzog Lüpold, der das Geschwader führen sollte, mitten in der sich gegenseitig spiessenden vertrackten Schrottplatzöde, meldete erbost: «Du wagst es, Tell, wider königlichen Stachel zu löcken? Wir haben Stricke mitgebracht, ihr Trachtenknaben, um euer Vieh zu entführen, daran wir jeden von euch hieven werden, dass die Vögel was zu picken –»; hier endet seine Rede nach den historischen Quellen, weil ihn jetzt offensichtlich einer pickte, kein Vogel, sondern ein gefiederter Getreuer hatte sich hoffnungslos in Lüpolds Kettenhemd verhängt. Die vordersten Reiter, die noch nicht ganz aufgerieben waren durch das Stricken, schickten sich inzwischen an, den Hang zu erklimmen, doch gaben die Kuhpflätter glitschig nach, und einer nach dem anderen, wies ihnen recht geschah, flog der Länge nach hin. Die Pferde hatten sie längst stehen lassen, es war zu eng und viel zu steil hier innen; die Knechte, etwas oberhalb im Tal, verkniffen sich ein Lachen, das ihnen schnell vergehen sollte. Wie aber sich erheben ohne Knechte in der Rüstung schwer? Wie die Bandagen lösen und die Scharniere wieder ölen? Wie den Spitzschuh aus der Wurzelklemme heben? Die Herren Ritter zappelten im hohen Gras, dass Gott’s erbarm, und wer noch rutschte, dem geschah alsbald desgleichen.