Roman einer Emanzipation

Edition Moderne, Zürich 1985
Dilemma der Mutter zweier Kinder zwischen einem Mann und einer Frau.
Susanne ist müde, ernüchtert und fühlt sich schlecht. Sie hat Kopfschmerzen. Über eine halbe Stunde lang sitzt sie schon fröstelnd und angstvoll im Zugsabteil, obwohl der Wagen geheizt ist.
Lange Zeit habe ich die Bahn nicht mehr benutzt, stellt Susanne fest. Früher ja, in der Schulzeit. In halbleeren stehenden Waggons lässt sich gut sitzen und nachdenken.
Mit der linken Hand presst sie die Spitzen des Mantelkragens zusammen. Der Kragen hüllt ihr Gesicht zur Hälfte ein. Das Haar bauscht sich über den Schultern. Susanne friert noch immer.
Jeden Neueintretenden, besonders Männer, mustert sie mit ungewollt kühnem, herausforderndem Blick. Sie weiss nicht, warum sie das tut. Keiner reagiert im geringsten. Man vermag sie auch kaum zu sehen in ihrem hochgeschlossenen Mantel. Sie sitzt mit gekreuzten Beinen da; nur im Schoss spürt sie noch ein wenig Wärme.
Sie blickt um sich.
Würde irgend jemand begreifen, warum ich meine Familie verlassen habe? Würde hier jeder auf ‹kaputte Ehe› schliessen oder auf ‹Flucht aus der Sackgasse einer zerlangweilten Sexualität›? Könnte einer Verständnis aufbringen für meinen Versuch, mir den Instinkt der Mutterschaft, die Pflicht der Kleinkindbetreuung, die Angst vor dem Opfer der Selbstaufgabe bewusstzumachen und mir die Konsequenzen zu erlauben? Wären überhaupt Männer in der Lage, diese Gefühle, die ich mir seit kurzem verbitte, nachzuempfinden? Gibt es vielleicht gar keine Männer oder Frauen, die mich verstehen könnten in meinem fröstelnden Alleinsein mit schlechtem Gewissen, ohne mich gleich abzuurteilen?
Das fragt sie sich und befindet sich in einem stehenden Eisenbahnzug, weit weg von der ihr erwachsenen Aufgabe, die sie sich weiss Gott seit jeher gewünscht hatte. Die Fragen beginnen sie aufzuregen, fangen an, heftig gegen ihre Brust zu schlagen, von innen. Es sind längst keine Fragen mehr, die sie zu beantworten hat – es ist ein Anfall von Wut und Zorn und Entsetzen.
Sie atmet stossweise, beginnt mit der Faust, die den Mantelkragen umfasst, gegen diese stechenden Fragen zu hämmern, will sie ersticken wie einen Brand mit einem nassen Tuch. Sie drückt den Kopf in die Bankecke und wagt nicht mehr, sich zu rühren, auch als der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hat und stampfend in die Nacht hinausfährt.